Die Bucht des Mont
Saint Michel in der Normandie versandet mehr und mehr - Bagger greifen ein
Anstieg des Meeresspiegels? Überschwemmung der Küstenregionen? Nicht
an der französischen Kanalküste. Hier greift das Land scheinbar unaufhaltsam
um sich und läßt eine der meistfotografiertesten Inseln der Welt allmählich
zum schnöden Festland werden. Die Klosterinsel Mont St. Michel vor der
normannisch-bretonischen Küste, die von ihren rund 150 Bewohnern auch gerne
als „Wunder des Westens“ oder gar „Achtes Weltwunder“ gepriesen wird,
verlöre damit ihren Zauber.
Das bereitet den französischen Denkmalschutzbehörden Kopfschmerzen, denn
der Mont St. Michel steht auf der UNESCO-Liste des zu schützenden
Weltkulturerbes und zieht jährlich über drei Millionen Besucher an. Die
eindrucksvolle Silhouette der durch einen imposanten Klosterbau erhöhten
Granitinsel begründet diese Attraktivität. Der Vergleich mit den ägyptischen
Pyramiden ist nicht ganz abwegig, das Bezaubernde ist jedoch der einmalige
Kontrast zwischen der endlosen, zeitweilig überfluteten Ebene und der
ungewöhnlich geformten Insel: Da Fels und Bebauung vom Weitem kaum zu
unterscheiden sind, scheint eine steinerne Pyramide vor der Küste zu stehen.
150 Meter über der Sandebene, auf der schlanken Turmspitze der romanischen
Abteikirche, glänzt die vergoldete Statue des Erzengels Michael.
Dieser war es nämlich, so berichtet zumindest eine Sage, der dreimal dem
Bischof Aubert in der nahen Stadt Avranches erschienen ist und den Bau einer
Kapelle auf dem Felsen anordnete. Um den säumigen Bischof die Dringlichkeit
des Wunsches zu vermitteln, bohrte der Engel ihm bei seinem letzten Besuch
den Finger in den Schädel und hinterließ dort ein Loch. Anders als nach den
ersten beiden Aufträgen reagierte der Heimgesuchte jetzt sofort. Im Jahre
708 ließ der angebohrte Bischof die erste Betkapelle errichten. Es folgten
noch andere Bauten bis im 15 Jh. die Abteikirche und ein dreistöckiges,
schlicht als «Merveille» (Wunder) bezeichnetes gotisches Klostergebäude an
die steilen Felswände gebaut waren. Über dessen Dach befindet sich in
schwindelerregender Höhe ein Kreuzgang mit mehr als 200 fein skulptierten
Säulen, zwischen denen man aus der Vogelperspektive über die weite Bucht
blicken kann. Die heutige Form des Berges wurde schließlich durch
Festungsmauern bestimmt, die während des gegen England geführten
Hundertjährigen Krieges errichtet wurden.
Zahlreiche Pilger und seit dem letzten Jahrhundert auch zunehmend
Touristen kamen zu der zauberhaften Insel. Auf den weiten Sandflächen aber
geschahen und geschehen tragische Unglücke. Zum einen herrscht hier mit 15m
der stärkste Gezeitenunterschied (Tidenhub) Europas; die Flut soll, so
meinte zumindest der französische Schriftsteller Viktor Hugo, mit der
Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes heranrollen und damit manchen
Wanderer überrascht haben. Zum anderen verbergen sich unter der scheinbar
festen Oberfläche unterirdische Wasserläufe und Taschen aus Schlamm und
Tang. Zahlreiche Schilder warnen heute vor diesen «Sables mouvants»,
trotzdem versinken hin und wieder unvorsichtige Touristen. Das französische
Fernsehen strahlte letztes Jahr die Videoaufzeichnung eines Wanderers aus,
der seine eigene Mutter verschwinden sah. Bekannt ist auch die grausige
Schilderung Viktor Hugos vom Untergang eines Pferdegespanns samt Kutsche.
Die Insassen konnten sich retten; die Tiere und das Gefährt wurden in nur
zwei Minuten sprichwörtlich vom Erdboden verschluckt. Die trügerische
Sanddecke schloß sich, als ob nichts geschehen wäre.
Über dieses unsichere Terrain baute man, der steigenden Besucherzahl
Rechnung tragend, 1880 einen fast 2km langen Fahrdamm, der vom Süden her die
Insel mit dem Festland verband. Außerdem wurden rechtwinklig zum Damm neue
Deiche aufgeschüttet und zwei Flußläufe umgeleitet. Schon fünfzig Jahre
vorher hatte man die Küste durch einen Deich 6km nach Norden, in Richtung
der Insel vorgeschoben. In diesem Polder stehen heute ein Supermarkt und
mehrere Hotels.
Die Veränderungen sollten aber weitreichende Folgen haben. Außer den
Millionen Touristen strömte nämlich auch immer mehr Sand zum Berg. Während
erstere meist nur zu einem Fotostopp hier verweilten, lagerte sich der Sand
dauerhaft in der Bucht ab. Der Felsen wurde nicht mehr umströmt, und die
kanalisierten und durch ein Wehr zurückgehaltenen Flüsse hatten aufgehört,
die Sedimente ins offene Meer zu spülen. So muß man dieses Meer heute oft
mit dem Fernglas suchen, es kann sich bis zu 18km zurückziehen. Nur einige
Springfluten zur Tagundnachtgleiche im Frühjahr und Herbst lassen hin und
wieder das Wunder zur Insel werden. Während um 1900 noch zwei von drei
Fluten die Nordseite des Felsen erreichten, ist es heute nur noch jede
dritte. Alte Fotografien bestätigen, daß im letzten Jahrhundert sogar noch
Dampfschiffe anlegten – dies ist heute fast unvorstellbar. Die Postkarten,
auf denen hohe Wellen abgebildet sind, die sich am Berg brechen, sind nichts
als geschickte Fotomontagen.
Mit der Versandung siedelten sich auch halophile Pionierpflanzen auf den
selten überfluteten Flächen an. Statt Fischen tummeln sich deshalb heute
neben den Touristen auch schwarzköpfige Schafe zu Füßen des Berges. Das
Hammelfleisch ist wegen seines besonderen Geschmackes geschätzt. Die
Salzwiesen, les prés salés, liefern das würzende Futter.
Doch der zunehmenden Verlandung soll demnächst ein Ende gesetzt werden.
Ein Deich wurde schon1983, hundert Jahre nach seinem Bau, abgetragen. Die
Regierungen der angrenzenden Departements und des französischen Staates
haben jedoch ein noch weitreichenderes Programm beschlossen. 550 Mio. Francs
(165 mio DM) wurden dafür bewilligt, und die Studien an einem naturgetreuen
Modell der Bucht haben schon begonnen. Sie sollen in den Jahren 2000-2002 in
Arbeiten vor Ort umgesetzt werden. Im wesentlichen bestehen diese, soviel
steht schon heute fest, im Rückbau einiger Deiche und der Rückleitung der
Flüsse in ihre ursprünglichen Bette. Auch das Wehr des
normannisch-bretonischen Grenzflusses Couesnon soll durchlässiger gemacht
werden.
Die bedeutendsten Arbeiten sollen dem Fahrdamm gewidmet werden: Um wieder
mehr Wasser zum Berg zu gesellen, wird der Damm auf ein Kilometer Länge
weggebaggert und durch eine Stelzenbrücke ersetzt. Die zeitweise
überfluteten Parkplätze vor dem Tor der Festungsmauern verschwinden damit
ebenfalls. Ein noch zu bestimmendes Transportmittel wird dann die weniger
wanderfreudigen Besucher aus dem Hinterland heranfahren. Der zwangsläufige
eintretende Besucherrückgang wird in Kauf genommen und von einigen der
touristengestreßten Bewohner der Insel sogar begrüßt.
Doch ist noch keineswegs sicher, ob die Verlandung, an der im übrigen
viele Buchten leiden, damit rückgängig gemacht wird. Zumal wenn man bedenkt,
daß der vor seiner Bebauung Mont Tomb genannte Felsen einst mitten in
einem Wald lag. Dieser sagenumwobene Forêt de Scissi wurde durch eine
Sturmflut im Jahre 709 weggefegt, dabei wurde außerdem die nahe Kanalinsel
Jersey vom Festland getrennt. Ein weiteres Beispiel für die Dynamik der Buch
ist das Schicksal des Felsenhügels Mont Dol. Dieser liegt in Sichtweite des
Mont Saint Michel vier Kilometer von der Küste entfernt im bretonischen
Hinterland und – wen wundert’s? – war einst eine Insel.